Am 4. Oktober 1919 gründete Hildegard Burjan die Caritas Socialis. CS-Schwestern aus Brasilien sahen sich einige Tage in Görlitz um – wo alles begann.
„Zum 100. Jubiläum von Hildegard Burjan sind die Schwestern aus Brasilien nach Wien gekommen. Wir haben überlegt, was ist wichtig, was sollten sie in dieser Zeit kennenzulernen und haben gesagt: Es war uns wichtig, nach Görlitz zu fahren, zu den Wurzeln Hildegards kommen und diese Orte sehen“, sagt die Generalleiterin der Caritas Socialis, Schwester Susanne Krendelsberger, CS.
Am 10. Oktober startete ein Auto in Wien. Erste Station war die Wohnung der Familie Freund auf dem Görlitzer Elisabethplatz 36, wo Hildegard geboren wurde und aufwuchs. Die Zeit bis zur Rückreise nach Wien, am Sonntag den 13. Oktober, haben sie genutzt, um die Orte in Görlitz zu besuchen, die mit Hildegard Burjan in Verbindung stehen. Dazu gehört neben dem Geburts- und Wohnhaus in der Elisabethstraße, der Hildegard-Burjan-Platz, die Kathedrale St. Jakobus, in dessen Turm die Hildegard Burjan Glocke unlängst in das Sechser-Geläut eingefügt worden ist und an der Kathedrale ein Rosenstrauch an Hildegard Burjan erinnert. Die CS-Schwestern besuchten den jüdischen Friedhof, das Haus in der Johannes-Wüsten-Straße, in dem Hildegard mit ihrer Familie gewohnt hat und auch die Caritas-Wohnanlage am Elsternweg, die den Namen der Seligen trägt, wie das Pflegeheim nebenan.
In Brasilien/Paraná ist die Caritas Socialis unter der ärmsten Bevölkerung tätig. Auf ihre Initiative und mit deren Hilfe errichteten Familien aus Elendsquartieren Eigenheime und erhielten dabei Berufsausbildung. Maria Elvina Mendes, die in der Reisegruppe in Görlitz mit dabei ist, konnte als Kind mit ihrer Mutter in ein solches Haus einziehen. Sie ist Historikerin und hat sich mit der Reise zum Jubiläum nach Österreich einen Lebenstraum erfüllt. In der Stadt Curitiba arbeiteten die Schwestern einige Zeit in der Pastoral und initiierten soziale Projekte in den Basisgemeinden, beispielsweise eine Beschäftigungsinitiative in der Mülltrennung – ein Projekt mit den Müllsammlern.
Die CS-Schwestern aus Brasilien waren nach Wien gekommen, um am 3. Oktober in Wien mit über weiteren 500 Menschen einen Festgottesdienst mit Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn zum 100jährigen Bestehen der Caritas Socialis zu feiern. Ein Demonstrationszug zog nach dem Gottesdienst in der Servitenkirche zum Gründungsort in der Pramergasse im 9. Bezirk.
„du sitzt im Rollstuhl und stehst gleich auf“
Während zwei Caritas-Mitarbeiterinnen in der Görlitzer Burjan-Wohnanlage Kaffee einschenken und Kuchen auf den Tellern verteilen, erzählt eine brasilianische CS-Schwester über Kirche in ihrem Land: „Wenn man durch die Straßen geht, ist jedes zweite Haus eine eigene Kirche. Es gibt viele Freikirchen, die die Leute begeistern, auch durch eigene Fernsehsendungen. In Gottesdiensten wird viel gesungen. Die Menschen werden auf emotionaler Ebene angesprochen. Es wird den Leuten allerhand versprochen. Da predigt einer und plötzlich passieren Heilungen. Das macht natürlich die katholische Kirche nicht, dass sie sagt, du sitzt im Rollstuhl und stehst gleich auf“.
CS Schwestern arbeiten in Brasilien, in der Diözese Guarapuava in der »Kinderpastoral«, einem Programm gegen Unterernährung und für die Entwicklung der ganzen Familie und konnten damit in der Region wichtige sozialpolitische Akzente setzen und positive Änderungen bewirken. Familien mit Kindern von der Geburt an bis sechs Jahren werden begleitet, Schulungen beispielsweise zu gesunder Ernährung, gewaltfreier Erziehung, Drogenprävention, zum Herstellen von Spielzeug aus wertlosem Material und anderem mehr werden angeboten.
Die Schwestern errichteten ein Zentrum für Familiensozialarbeit, das Centro de Apoio à Família, mit dem Schwerpunkt, Initiativen gegen die Gewalt in Familien zu setzen. Hier werden u.a. Sozialberatung, Alphabetisierungskurse, Weiterbildungen und Freizeitaktivitäten (Sport, Musikunterreicht) für Kinder und Jugendliche angeboten.
CS Schwestern sind heute in Guarapuava und in Pitanga vertreten. In Pitanga arbeiten die Schwestern in der Beratung und Begleitung von Menschen. Sie initiierten ein Nähprojekt, in dem Frauen das Nähen mit der Nähmaschine erlernen können und so den Weg in die Berufstätigkeit und Selbständigkeit gehen können. Ein Nähkurs findet auch im Gefängnis statt, so dass die Frauen während ihres Gefängnisaufenthalts einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen und ein Handwerk erlernen können.
Hildegard Burjan: sozial sensibel – politisch – aktiv für die Menschenwürde
Am 4. Oktober 1919 gründete Hildegard Burjan die Caritas Socialis als Gemeinschaft von Frauen in der Kirche. Hildegard Burjan (1883 – 1933) war verheiratet, Mutter, Akademikerin mit wachem Blick für gesellschaftliche Entwicklungen. Tatkräftig, innovativ und mutig beschritt sie neue Wege der Hilfe – als Sozialpionierin, als Gründerin der Caritas Socialis, als eine der ersten acht Frauen, die vor 100 Jahren als Abgeordnete ins Parlament einzogen. Hildegard Burjan war die erste und damals einzige christlich-soziale weibliche Abgeordnete im Wiener Gemeinderat und im österreichischen Parlament. Genannt „das Gewissen des Parlaments“ gelang ihr die Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg. Als Jüdin ließ sie sich nach schwerer Erkrankung taufen und setzte sich gemeinsam mit ihren Weggefährtinnen für die Rechte von Frauen, für die Würde des Menschen, für Verbesserung von Strukturen und die Überwindung von Kluften in der Gesellschaft ein. Am 29. Januar 2012 wurde Hildegard Burjan in Wien seliggesprochen.