„nasze miasto – unsere stadt“ – erstmals wurde in der Kinderstadt in der Europastadt Görlitz-Zgorzelec eine Kirche gebaut – und dies in Rekordzeit
Einen Schlagbaum oder Zugbrücke gibt es nicht am Eingang zur Kinderstadt im Görlitzer Stadthallengarten, wohl aber eine Absperrkette – und ringsum hohe Zäune. Unbemerkt kommt hier keiner rein oder raus. Hinter der Kette wacht Christian Hüter. Er ist Koordinator dieser deutsch-polnischen Kinder-Stadt, die vom 5. bis 14. Juli werktags von neun bis 16 Uhr geöffnet ist. Für die Betreuung der Kinder sind etwa 70 erwachsene Angestellte und Freiwillige zuständig. In dieser Stadt haben Kinder die Möglichkeit, sich in verschiedenen Berufen auszuprobieren und diese Stadt zu leiten. Hinter dem Koordinator braust ein Taxi, mit einem Fahrgast auf dem Rücksitz vorbei. Der Taxifahrer muss auf den sandig-staubigen, teils steinigen Straßen kräftig in die Pedalen treten. Mit einem Mikrophon und Lautsprecher läuft derweil ein Pfarrer, in schwarzer Soutane, über die Straße. Bereits vom Eingang aus ist zu sehen: Quirlig ist das Stadtleben, aber nicht hektisch, etwa so wie in einer norddeutschen Kleinstadt.
Die ersten Kinderstädte entstanden in den 1970er Jahren. Bekannte Städte sind Minimünchen oder Heidelyork. Nach Görlitz kam die Idee vor 14 Jahren. Die Kinderstadt: „nasze miasto – unsere stadt“ ist in der Europastadt Görlitz-Zgorzelec ein deutsch-polnisches Gemeinschaftswerk, das alle zwei Jahre während der sächsischen und polnischen Sommerferien stattfindet. Getragen wird das Projekt von Vereinen und Verbänden. In diesem Jahr ist der Meetingpoint Music Messiaen e.V. in Görlitz Träger dieses Projektes, das Europäische Zentrum für Bildung und Kultur Zgorzelec-Görlitz. Es ist der Ort des ehemaligen Strafgefangenenlagers im Zweiten Weltkrieg, STALAG VIII A. Heute steht an diesem Ort das Bildungszentrum. Jeweils 100 Kinder im Alter von sieben bis 14 Jahren von beiden Seiten der Neiße sind dabei.
Arbeiten muss man nicht in der Kinderstadt, Faulpelze könnten hier gut leben
Koordinator Christian Hüter hat die Journalisten die Stadtgrenze passieren lassen. Er nimmt sie gleich mit zum wichtigsten Amt in der Stadt– dem Arbeitsamt. Dafür ist er auch zuständig „Morgens und mittags hat das Amt geöffnet. Rund 30 Berufsangebote gibt es hier. Die Stoßzeiten sind vormittags, wenn die Kinder ankommen und einen Beruf suchen und nach dem Mittagessen, wenn sie sich entschieden haben, einen anderen Beruf zu wollen“. Arbeiten muss man nicht in der Kinderstadt, Faulpelze könnten hier gut leben, denn: „Für essen und trinken muss man nichts bezahlen. Das bekommen alle Bürger umsonst. Für sonstige Leistungen oder Produkte schon“, sagt Hüter. Wer Freizeitangebote nutzen oder Produkte kaufen will, der muss dafür bezahlen. „Dafür hält die Bank spezielles Geld vor, bringt die Kinderstadtwährung in Umlauf. Dadurch lernen die Kinder, dass sich Arbeit lohnt, vor allem Arbeit als Wert anzusehen. Darüber hinaus als Anreiz und an Anerkennung“, sagt er. Frosch ist die kleinste Währungs-Einheit. Zwei Frösche sind ein Affe. Ein Affe und drei Frösche sind ein Kamel. Und zwei Kamele sind ein Elefant. Kleines Tier geringer Wert, großes Tier ist mehr wert, so können es sich die Kinder gut merken. Die Preise ändern sich, es gibt auch Inflation. Alles wie im normalen Leben.
Vom Arbeitsamt geht es zum Informations-Büro. Marten Beck bietet sofort seine Leistung als Stadtführer an. Bei der ersten Station, der Bank, erklärt der Neunjährige, wie die Entlohnung erfolgt. Wenn du eine Stunde gearbeitet hast, gibst du deinen Passport her und du bekommst acht…“. Seiner Schwester Leonie dauern die Erklärungen ihres Bruders zu lange: „Wenn du eine Arbeit fertig hast, kreuzen sie dir das in deine Ausweis an und schreiben dann die Unterschrift hin und du bekommt dafür Geld“. Ab diesem Zeitpunkt sind es zwei Stadtführer, die den Gast begleiten. Gestohlen werde hier auch, beispielsweise „Geld. Wenn er zum Beispiel welche ablenkt, kann er das einfach nehmen und dann sieht das ein Polizist oder einer sagt das der Polizei. Dann gibt es so einen Fall und da gibt es auch ein Gefängnis“, erklärt Marten. Das Gefängnis-Zelt ist gleichzeitig die Polizeistation. Die ist jedoch leer. Offenbar wollte an diesem Tag kein Kinder-Bürger Polizist werden – oder es gibt zu wenig Fälle. Auch das Museum ist leer. Gewusel in der Holzwerkstatt, Elektroniker, Feuerwehr, Fundbüro, Juweliere und Banker, Beschwerdestelle, Taxifahrer, Stadtführer, Zeitungskiosk, Bibliothek, Kinderparlament, Fotograf, nahezu alles, was in einer normalen Stadt zu finden ist, gibt es auch hier. Mit Kreideproduktion ist Tatjana beschäftigt. Sie ist neun Jahre alt, kommt aus Polen, wohnt in Görlitz, spricht fast akzentfreies Deutsch, Polnisch ohnehin.
„Bitte nicht läuten! – Der Pfarrer“, steht auf einem Blatt
Erstmals gibt es in der Kinderstadt eine Kirche. Kirchliche Angebote, die von Christen gemacht werden, gibt es in den vergangenen 14 Jahren, seit es diese Kinderstädte in Görlitz gibt… Aber noch nie ein „Kirch-Gebäude“. Das besteht aus einem hellen, fast weißes Partyzelt. Dorthin gelangt man durch den Glockenturm. Der ist aus Holz. Vier Glocken hängen im Turm, sind mit einem Seil von Hand zu läuten. An den Wänden kleben Zettel. Auf einem steht: „Alle sechs Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger – deshalb wollen wir Mittag kein Essen wegwerfen“. „Keine Gewalt – dafür Frieden. Das ist besser“, schreibt Charlotte. „Wir wollen anderen helfen, als sie sitzen zu lassen“. Und zwischendrin sind Zettel angebracht, auf denen Wünsche auf Polnisch stehen. „Bitte nicht läuten! – Der Pfarrer“, steht auf einem Blatt. Das machen er oder seine zwei Kirchen-Mitarbeiterinnen. Daniel Pfister ist in einen schwarzen Talar gekleidet, mit einem Kreuz an einer Kette um den Hals. Er ist mit neun Jahren ein relativ junger Pfarrer, nicht so für die Kinderstadt: „Ich wollte Pfarrer sein, denn ich will wirklich Pfarrer werden“, sagt er. „Viel über Gott reden, wollen die Leute hier eher nicht“, sagt der Pfarrer, der an Gott glaubt und regelmäßig in die Kirche geht. „Ich gehöre zu Heilig Kreuz“, sagt er. Das ist die Pfarrkiche der Pfarrei Heiliger Wenzel. Gottesdienste hält Pfarrer Daniel nicht, jedoch Morgen- und Mittagsgebete. Sein Gebetsheft macht bereits einen ziemlich gebrauchten Eindruck – was bei Gebetbüchern keinesfalls ein Makel ist. Mit Bleistift steht auf einer Seite der Ablauf des Morgengebetes: „Wir wollen Gott gemeinsam preisen. Wir singen gemeinsam. Ich bete: Herr, wir danken für die Nacht und bitten für einen gesegneten Tag, Amen. Die Konfession spielt in der Kinderstadt ebenso keine Rolle, wie die Nationalität. Alle sind willkommen, ohnehin in der Kirche. Dort bietet der Pfarrer: „Stille, mit Kerzenlicht und heute haben wir schon ein Bibel-Theaterstück geplant“. Schon ist er im Gewimmel der Stadt unterwegs, auf Werbetour für die Aufführung nach dem Mittag. Mit einem Megafon spricht er live seine Einladung aus, geht an Ständen, Werkstätten, dem Rathaus, der Post und der Radiostation entlang.
In der Kirche zurückgeblieben sind die beiden Kirchen-Mitarbeiterinnen. „Ich helfe dem Pfarrer bei den Organisationen, stelle Kerzen hin“, sagt Friederike. Es ist ihr erster Tag als Helferin des Pfarrers. „Ich war schon Bäcker, Tierpfleger und Kreideproduzent. Jetzt will ich nichts Neues mehr machen, will in der Kirche bleiben“. Eine Besuchergruppe betritt die Kirche. Alles ist freiwillig, so auch der Kirchenbesuch. Tischler haben einen Tag zuvor Bänke gebaut. Einige Kinder setzten sich darauf, schauen in das Kerzenlicht, unterhalten sich leise. Als ob das nötig wäre, von draußen dringt der Stadtlärm ohnehin durch die dünnen Zeltbahnen.
Ich denke, dass die Welt, das alles hier, durch ein schwarzes Loch entstanden ist“.
Gabriele Kretschmer betreut die Kirche, Pfarrer und Mitarbeiter. Von ihr stammt die Idee des Kirch-Baus. Sie sorgte für die Umsetzung. Die Gemeindereferentin, die im Bischöflichen Ordinariat für Missionarische Pastoral zuständig ist, spricht darüber, wie ihre Idee zum Gotteshaus wurde: Es gibt keine Stadt, kaum ein Dorf, das keine Kirche hat. Da war das jetzt dran. Aber: Es war eine mühselige Arbeit. Das gilt nicht nur für den Kirchturm. Viele, viele Bretter – und alle haben Kinder handgesägt. Der Turm ist in zwei Tagen entstanden – und am dritten gab es das Richtfest. Dabei erhielt sie den Namen: Sankt Nikolaus. Den Namen hat der Pfarrer festgelegt, weil sich Nikolaus viel mit Kindern beschäftigt und ihnen geholfen hat. Damit waren die anderen auch einverstanden“, sagt Pastor Daniel. Die achtjährige Charlotte ist die zweite Kirchenmitarbeiterin. Für sie ist wichtig, den Altar schön machen und beten – ab und zu. Auf ihrer Karriereleiter steht als nächstes Klettern.
Ein Mädchen ist in die Kirche gekommen, Polly. Sie ist nicht getauft, sagt sie, aber interessiert. „Das Wort Gott sagt mir schon etwas, aber ich glaube nicht an ihn, denn ich bin Wissenschaftler“, sagt der elfjährige Paul. Während Pfarrer Daniel von Schöpfung spricht, sagt Paul: „Ich denke, dass die Welt, das alles hier, durch ein schwarzes Loch entstanden ist“.
Viele Dolmetscher – Sprachmittler sind in der Stadt unterwegs. Die Kinder kommunizieren in den Angeboten viel darüber, was sie tun. Bei Angeboten, die sehr handlungsorientiert sind, wie Bäcker beispielsweise, ist die Kommunikation einfacher als beim Radio, wo viel über Sprache läuft. Dort werden öfter Sprachmittler benötigt, als bei der Feuerwehr oder beim Kerzen-ziehen.
Wegnehmen kann den Kindern ihre Arbeit niemand. Um neue bemühen, das geht so: Kinderstadt-Bürger gehen mit ihren Pässen zum Arbeitsamt. Dort hängen laminierte Karten mit Arbeitsangeboten aus. Wer sich für einen neuen Job interessiert, bekommt diese Karte, wir registriert – wird dann beispielsweise Stadtführer. Gibt es mehrere Interessenten, legt jeder von ihnen seinen Pass in eine Kiste und das Los entscheidet.
Jetzt ist das Stadtführer-Geschwister-Paar an der Kirche angekommen, geht hinein, wie es bei Stadtführungen üblich ist. Zu Gebets-Zeiten waren sie noch nicht hier, vor lauter Arbeit haben sie es noch nicht geschafft, sagen die Beiden. Also wie im normalen Leben – so geht es auch in dieser Hinsicht in der Kinderstadt zu.
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