Erstveröffentlichung: Tag des Herrn. 04.05.2023
Ein Beitrag von Holger Jakobi und Sophia Manns-Süssbrich
Als Anastasiia Komnatska ihren Großvater im Sommer 2021 in seinem Dorf Luch nahe Cherson besuchte, war alles in ihrem Leben in Ordnung. Sie sagt: „Mein Großvater bedeutet mir sehr viel. Damals war alles so schön dort, so voller Farben und voller Frieden. Ich habe es geschafft, meinen Kindern und meinem Mann zu zeigen, wo ich glückliche, unbeschwerte Kindheitstage erleben durfte. Heute ist dort alles kaputt.“ Inzwischen lebt der Großvater bei seiner Schwiegertochter in der Stadt Mykolajiw. Eine Rakete hat sein Haus getroffen, aber er lässt die Hoffnung nicht los, dass er bald nach Luch zurückkehren wird. „Er ist jetzt 86 und natürlich will er nach Hause und hat sich schon neue Fenster gekauft. Er ist so voller positiver Energie. Für mich ist es dennoch irgendwie traurig und ich hoffe sehr, ihn bald wiederzusehen.“
Anastasiia Komnatskas Familie lebt in verschiedenen Regionen der Ukraine, selbst ist sie neben der Zeit in Luch in Varash aufgewachsen, einer Stadt im Westen des Landes. 40 000 Menschen leben dort, die meisten von ihnen arbeiten im Kernkraftwerk. „Deshalb können viele aus Varash nicht fortgehen, es ist nicht so einfach, ein Objekt wie ein Kernkraftwerk zu verlassen. Wenn eine Offensive beginnt, ist eine Evakuierung einfach unmöglich.“
„Konnte nicht glauben, dass der Krieg stattfand“
Varash ist in den vergangenen Monaten zum Anlaufpunkt der Ukrainehilfe der Pfarrei Heiliger Wenzel in Görlitz geworden. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine stand Anastasiia Komnatska unter Schock. „Ich konnte einfach nicht glauben, dass der Krieg tatsächlich stattfand. Weinen konnte ich nicht, Weinen war eine zu schwache Emotion. Angst aber hatte ich schon.“ Komnatska kam einige Wochen nicht zur Besinnung. „Ich dachte, ich würde vor Wut und Hass explodieren oder einfach durchdrehen vor all dem Terror und ich hatte Sorge um meine Familie und die Leute in Varash.“ Angst, Wut und Hass wandelte sich schließlich in das Gefühl, etwas tun zu müssen. Und so ergriff Anastasiia Komnatska die Initiative zur Ukrainehilfe der Pfarrei. Sie erinnert sich: „Eigentlich bin ich kein Mensch, der um etwas bittet. Meine Mutter sagte immer: ,Sei kein Bettler‘, mach es selbst.’ Ich habe gesehen, dass viele Menschen um mich herum helfen wollen, aber nicht wissen, wie. Also nahm ich allen Mut zusammen und habe Pfarrer Roland Elsner angesprochen. Er bat mich, persönlich meine kleine Ansprache an die Gemeinde vorzulesen. Es war mir sehr peinlich, aber der Wunsch, den Bedürftigen zu helfen, überwog. So fing alles an, darüber bin ich ihm sehr dankbar.“ Pfarrer Elsner engagierte sich sofort für die Aktion. „Ich war so angenehm überrascht, wie schnell er alles organisierte und wie viele nützliche Kontakte und Informationen er zur Verfügung stellen konnte. Ich weiß nicht, ob ich es ohne ihn geschafft hätte, vielleicht wäre es mir gelungen, aber nicht in diesem Ausmaß, nicht in dieser Geschwindigkeit.“
Sehr dankbar ist Anastasiia Komnatska auch der Gemeinde Heiliger Wenzel. Mit dem gesammelten Geld wurden sechs Blutmischwaagen sowie 1080 Blutbeutel angeschafft. Am Anfang der Hilfe stand das Sortieren der Sachspenden. Autos aus Varash holten die Hilfen in Görlitz ab. „Ich kann nicht sagen, wie viele Tonnen es waren. Beim Verladen von acht Autos war ich mit dabei. Alle Sachen wurden in der Ukraine neu verpackt und in den Osten unseres Landes geschickt, wo sie dringend benötigt wurden.“ An alle Spender gerichtet, betont Komnatska: „Sie können sicher sein, dass die Hilfe ankommt und verteilt wird. Alle in Görlitz gesammelten Sachen wurden an die am stärksten vom Krieg betroffenen Städte der Ukraine weitergeleitet.“
Zudem wurden und werden Benefizveranstaltungen und Basare von der Gemeinde organisiert. Anastasiia Komnatska berichtet über all das, was aktuell gebraucht wird: Hilfe in der Katastrophenmedizin, Arzttaschen, Wärmedecken, Einwegduschen. Viele Menschen in der Ukraine brauchen jetzt auch Rehabilitation, nicht nur körperliche Rehabilitation, sondern auch psychologische Entwicklungsprogramme. Auch da sind Hilfen nötig. „Auch die Nachfrage nach Pickups ist sehr hoch, da die Straßen in den vom Krieg besonders betroffenen Orten nicht mehr mit normalen Fahrzeugen befahrbar sind. Pick-ups bringen verwundete Zivilisten und Soldaten in Sicherheit. „Unsere Soldaten müssen jeden Tag solche Fahrzeuge nutzen, um zu den Stellungen zu gelangen, in denen sie ihr Land verteidigen. Um all dies zu beschaffen, sind wir auf finanzielle Hilfe angewiesen.“
Störungen des Luftraums zermürben die Menschen
Derzeit gibt es keine aktiven Militäroperationen in der Nähe der Heimatsstadt von Anastasiia Komnatska. Die Angst bleibt, weil die belarussische Grenze zirka 50 Kilometer von der Stadt entfernt ist, was zwei bis drei Minuten Flugzeit einer Rakete bedeutet. „Zu Beginn des Krieges sind 40 Menschen aus unserer Stadt und den umliegenden Dörfern gestorben, über das Schicksal von weiteren 20 ist nichts bekannt. Diese Zahlen wachsen fast täglich.“ Etwa 3000 Menschen suchten in Varash Zuflucht vor dem Krieg, es sind in der Regel Angehörige der Menschen, die in der Stadt leben. „Selbst haben wir kein Zentrum für Flüchtlinge, da Varash nicht sehr groß ist.“ Die Stadt organisierte Busse, um die Flüchtlinge in die Aufnahmezentren des Landes zu bringen und wurde so zu einer Art Umschlagplatz.
So kamen beispielsweise im März 2022 Flüchtlinge aus Borodjanka nach Varash. Borodjan- ka ist eine Siedlung im Oblast Kiew, die früh von den Russen eingenommen wurde. „Sie wussten nicht, wo sie gelandet waren, einige nahmen an, sie seien in Warschau.“ Die Flüchtlinge hatten nur die wichtigsten Sachen mitgenommen und hatten keinerlei Orientierung und keinerlei Information. „Sie zeigten Bilder von den Zerstörungen, niemand konnte ihre Tränen zurückhalten. Einige Großmütter kamen nur in ihren Nachthemden an. Es war schrecklich.“
Schwierig ist die Lage in Varash auch, weil es immer wieder zum Luftalarm kommt, wenn irgendwelche Flugobjekte aus Belarus über die Grenze fliegen. Anastasiia Komnatska: „Es ist eine russische Methode, die Leute zu zermürben, dafür lassen sie neuerdings immer wieder so etwas wie einen Luftballon aufsteigen oder die Flugzeuge fliegen nahe der Grenze vorbei. Die Sirenen manchen den Menschen Angst, sie wissen nicht, ob es eine Bedrohung gibt oder nicht. Ein modernes Überwachungssystem würde uns helfen, die Gefahr richtig einschätzen und nicht gleich Alarm auszulösen.“ Mit Blick auf die gesamte Ukraine schätzt Anastasiia Komnatska ein, dass die Zahl der zivilen Opfer zehnmal höher ist als die der militärischen.
Anastasiia Komnatska hofft, dass sich ihr Land mit technologisch besseren Waffen gegen den russischen Aggressor verteidigen kann. „Technologie wird diesen Krieg gewinnen! Wir brauchen dringend die neuesten Waffensysteme, um das Leben unserer Soldaten und das der Bevölkerung zu schützen.“
Welche Hoffnungen halten Anastasiia Komnatska aufrecht? Es ist die Hoffnung, dass der Krieg bald vorüber ist, auch wenn es nicht danach aussieht. Und dass der Westen ihr Land nicht im Stich lässt und es weiter unterstützt. „Ich möchte, dass das Wort Krieg nur noch in den Bücherregalen bleibt und nie wieder in unser Leben zurückkehrt.“
Sich nicht im Böse und im Hass verlieren
Stütze für ihr Engagement ist Anastasiias Komnatskas christliches Fundament. „Manchmal ist es schwer zu glauben, dass der Herr den Krieg zugelassen hat, aber wir Menschen sind uns über Gottes Pläne nicht immer klar.“ Die Ukrainerin betet jeden Abend für die Seelen der Menschen, die überlebt haben, die ihre Lieben verloren haben, darunter viele Babys und Kinder. Sie betet für die, die ihr Zuhause und ihre Hoffnung auf Zukunft verloren haben. Sie denkt an das Schicksal der Vergewaltigten und an die Eltern, deren Kinder nach Russland gebracht wurden. „Ich bete für spirituelle Heilung, Glauben und Frieden.“
Weiter betont sie: „Ich denke, dass Gott uns seine Liebe oft durch die Liebe unserer Nächsten weiter gibt. Ich hoffe wirklich, dass jeder Mensch in seiner Not diese Unterstützung erfährt und sich so gut wie möglich erholen kann. Ich bete aber auch, dass sich die Menschen nicht in diesem riesigen Haufen aus Bösem und Hass verlieren.“
Von Holger Jakobi
Unterstützung für die Ukraine über die Pfarrei Heilig-Kreuz in Görlitz
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